18.07.2021, 11:30
Evangeline hatte ihre Schritte beschleunigt. Natürlich hatte sie das. Oh ja, die Schauspielerin sollte besser laufen, bevor der große, böse Brite sie noch zu Tode langweilen würde! So nahm die Brünette ihn doch garantiert wahr. Als einen gewaltigen Langweiler. Und Wahlmöglich nahm sie insgeheim auch alle anderen Kollegen so wahr. Wer war auch schon so toll und spannend wie Evangeline Lilly?! Wer konnte ihr schon das Wasser reichen? Düstere Blicke bohrten sich in den entzückenden Rücken vor ihm. Tom scheuchte diese Gedanken jedoch rasch wieder aus seinem Kopf. Wenn man jemanden nicht sonderlich mochte, dann war es leider sehr einfach gedanklich in eine Spirale aus bissigem Sarkasmus zu geraten und diese Person zu verteufeln. Sicher irgendwo menschlich – aber ebenso sicher nicht gerade die feine englische Art. Vielleicht war der Brünetten einfach nur kalt und sie wollte schnellstmöglich in ihr warmes Hotelzimmer kommen. Im Zweifel für den Angeklagten, wie es so schön hieß. In dubio pro reo. Bei allen guten Vorsätzen blieb Tom zwar ein pelziges Gefühl auf Zuge erhalten, welches giftig nach all dem Sarkasmus schmeckte, der hätte sein können. Doch der Schauspieler ignorierte dieses Gefühl so gut es ging. Anstatt darauf zu achten, beschleunigte er seine eigenen Schritte bis Tom neben Evangeline herging.
Anscheinend ein guter Schachzug in dieser bizarren Partie. Denn kurz darauf sprachen die Kollegen über London. Und auch wenn sie sich dem Thema mit einer gewissen Oberflächlichkeit näherten, so ... Nun .... Redeten Evangeline und Tom doch zumindest miteinander. Wie sich herausstellte, war Evangeline wohl vertraut mit der Stadt, was Toms Interesse schon weckte. Schließlich war er ein waschechter Londoner und hatte einen engen Bezug zu der Metropole an der Themse. War Evangeline schon oft hier gewesen? Welche Ecken der Großstadt imponierten ihr besonders? Fragen wie diese kamen dem Briten in den Sinn. Der Engländer nickte etwas verhalten, doch ein Hauch von echter Neugier blitzte in den ozeanblauen Augen des Briten dann doch auf. Bevor Tom diesbezüglich jedoch nachhaken konnte, kam das Gesprächsthema auf Tessa zurück. „Ich war erstaunt, dass Tessa scheinbar noch nie in London war. Tatsächlich kam mir die Idee vorhin auch in den Sinn, ich kenne den Palace allerdings schon. Vielleicht schenke ich ihr eine Special-Tour zum Geburtstag.“ Evangeline erläuterte das noch ein wenig und bedankte sich für Toms Angebot Schmiere zu stehen, doch der Brite war noch ganz bei dem Einfall der Kanadierin. Tom musste bei dem Gedanken an Evangeline Idee lächeln. Wirklich. Er musste. Seine Mundwinkel zuckten nicht aus Kalkül oder vor lauter Höflichkeit. Wie Evangeline das gesagt hatte. Wie eine gute Freundin, die wirklich nur eine solche sein wollte. Die sich nicht selber inszenieren und auch ihren Narzissmus nicht auf diese Weise ausleben wollte. Es ging wirklich einfach nur um eine Geschenkidee für Tessa. Und eine ziemlich gute noch dazu, wie der Engländer zugeben musste. „Schon okay, ich kann ja schließlich nicht riskieren, dass dich noch jemand dabei erwischt, wie du in den Buckingham Palast einbrichst.“ winkte er ab und ein sanftes Lächeln umspielte die Lippen des Briten. „Deine Idee für Tessas Geschenk ist übrigens wirklich gut!“ lobte der Schauspieler seine Kollegin dann auch und bedachte sie mit einem anerkennenden Nicken. Irgendeine affektierte Idee, die sie selber in den Mittelpunkt gestellt hätte, hätte natürlich eher zu Toms Bild von Evangeline gepasst. Allerdings hatte der Schauspieler genug Größe um zuzugeben, dass die Brünette einen guten Einfall gehabt hatte. „Das würde Tessa sicher freuen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass hinter all dem Gerede über Corgis eine Frau steckt, die den Palast wirklich gerne mal sehen würde. Und er ist ja auch imposant.“ fügte der Brite hinzu. „Wenn ...“ Die Blicke des Engländers glitten abschätzend über Evangelines Gesicht, welches auch jetzt, in der Dunkelheit des Abends, noch sehr schön war. Es wunderte den Londoner wirklich gar nicht, dass man sie als Elbin besetzt hatte. Wie Liv Tyler oder Cate Blanchett wirkte sie stark und entschloss, ohne ihre Femininität dafür opfern zu müssen. Manche Frauen strahlten diese besondere Stärke einfach aus. Vielleicht ohne es selber zu wissen. „Wenn es für dich in Ordnung wäre, dann würde ich mich gerne sozusagen anschließen. Ich könnte ihr eine Führung durch den Tower von London schenken. Dann könnte Tessa mal eine Woche hier her kommen und historische Orte besichtigen. Vielleicht könnte ich dann noch Chris.“ Tom grinste schief. „Also Chris Hemsworth, man muss ja immer sehr genau definieren welchen Chris man gerade meint.“ fügte er zwinkernd hinzu. „Dazu überreden ihr eine Führung durch Hampton Court zukommen zulassen.“ Der Schauspieler brach ganz kurz ab. Es lag dem Briten auf der Zunge Evangeline zu erzählen wer in Hampton Court gelebt hatte und welche Spuren diese Person in den Geschichtsbüchern hinterlassen hatte. Die Blicke der Kollegen trafen sich. In dem Moment spürte Tom instinktiv, dass es besser war den Vortrag herunterzuschlucken. Was der Engländer auch tat. Sein Herz war dabei schon ein wenig schwer, doch Tom behielt sein Wissen für sich. Er war erwachsen genug dafür und verspürte nicht den Drang Evangeline absichtlich mit einer kleinen Geschichtsstunde anzustacheln. Anstatt der Brünetten von Henry VIII zu berichten, begrub er seine Hände noch tiefer in seine Manteltaschen. „Dann würde sich der Jetlag richtig lohnen.“ Fuhr der Schauspieler also in einem beschwingten Tonfall fort und schenkte seiner Kollegin ein weiteres Lächeln. Tatsächlich konnte Tom hinter diesen Aussagen stehen. Wahrscheinlich scherzte Evangeline nur. Doch ihre Idee war wirklich nicht von schlechten Eltern und falls sie ihren Einfall doch in die Tat umsetzten würde, dann würde Tom ebenfalls zu seinem Wort stehen, falls man das so nennen wollte.
Nachdem sie das Thema rund um Tessas Geschenke abgehakt hatten, liefen die Kollegen wieder Gefahr von einer bedrückenden Stille heimgesucht zu werden. Plötzlich schienen alle Geräusche der Stadt wieder lauter zu werden. Die quietschenden Reifen der Busse, die sich durch die Straßen wälzten. Die aufgekratzten Touristen, die gackerten und lachten. Die Einheimischen, die grölend aus Pubs torkelten. Alles war lauter gedreht worden. Wie ein gigantischer Radiosender. Eigenartig. Was ihre Fähigkeit miteinander zu reden anging, schienen Evangeline und Tom wie diese Puppen zu sein, die man mit einem Schlüssel aufziehen konnte und die sich dann eine Weile bewegen konnten, bevor sie wieder in sich zusammensackten. Gerade hatten sie einen ganz guten Gesprächsfluss gehabt, aber jetzt? Auf der anderen Seite, wen wunderte es? Für Tom war es noch immer komisch mit der Brünetten zu reden. Vielleicht war es jetzt sogar noch eigenartiger als vorher. Vor ein paar Minuten hatte der Brite wenigstens noch ein klares Bild von der Kollegin gehabt. Nun sah er sie nicht mehr komplett negativ, aber richtig mit ihr warm geworden war er natürlich auch noch nicht. Und dass der Engländer Evangeline nun nicht mehr ganz so gut einordnen konnte, das half eben auch nicht.
Zum Glück brach die Brünette rechtzeitig die Stille – und brachte die Kollegen dabei in gewisser Weise auch wieder auf ihr ursprüngliches Thema zurück. „Hast du es denn vom Hotel dann noch weit bis nach Hause?“ Tom zuckte mit den Achseln. „Es geht.“ entgegnete der Schauspieler. „Ich denke für Londoner Verhältnisse ist es nicht besonders weit. Ich werde einfach ein Taxi nehmen und auf wenig Verkehr hoffen.“ antwortete er wahrheitsgemäß und sah Evangeline dabei direkt in die Augen. „Du hast vorhin gesagt, dass es schön ist mal wieder in London zu sein. Darf ich fragen was dir an der Stadt am besten gefällt?“ Tom lachte auf. „Nur aus reiner Neugier!“ Über London zu reden war verhältnismäßig einfach. Während die Schauspieler ihren Weg ins Hotel fortsetzten und ihre hallenden Schritte einen eigenen Rhythmus gefunden hatten, sprachen sie über die Metropole. Evangeline erwähnte schließlich die lebhafte Theaterszene der Stadt und augenblickblich mochte Tom sie ein wenig lieber. Mit strahlenden Augen sprach er selbst kurz darauf von Theatern und Aufführungen. Er wirkte dabei wie ein übergroßes Kind, welches von seinem liebsten Superhelden schwärmte. Anders als Evangeline sah Tom sich selber nie als extrem verstockt, doch in diesem Moment wirkte er definitiv nicht so. Manchmal stimmte der Engländer der Kollegin zu, bei anderen Punkten musste der Brite wiedersprechen, dabei zeigte er sich jedoch immer von seiner enthusiastischen und geeky Seite. „A Doll's House ist definitiv faszinierend!“ Da war Tom ganz einer Meinung mit Evangeline. Sie besprachen gerade das Theaterstück von Henrik Ibsen, in dem eine Frau ihren Ehemann und ihre Kinder verließ. „Insbesondere wenn man bedankt wann Ibsen das Stück verfasst hat.“ Der Engländer unterstrich seine Worte mit Gesten. Seine Finger waren gespreizt und seine Hände bewegten sich rasch auf und ab.
Die Kollegen liefen gerade an einem Pub vorbei. Im Innern wurde laute Musik gespielt, die bis in den kühlen Abend hinaus drang. Vor der Tür standen eine Handvoll Raucher, die sich angeregt unterhielten. Zigarettenqualm vermischte sich mit dem von Vaporizern. „1880 oder 1879 oder wann es auch genau ...“ Der Schauspieler streckte die Hand aus und griff nach Evangelines Schulter. Direkt vor der Kanadierin war eine ziemlich unappetitliche Pfütze aus Erbrochenem, welche die Schauspielerin jedoch nicht sehen konnte, da sie gerade Tom ansah, der die Pfütze seinerseits nur Dank eines glücklichen Zufalls erblickt hatte. Es war definitiv zu spät um Evangeline "nur" zu warnen. „Vorsicht!“ Tom zog die Brünette also mit sanftem Druck zurück – und damit zwangsläufig in seine Arme. Dort hielt er sie für eine ewige Sekunde lang. Ganz geschockt von dieser unerwarteten Situation war Tom wie zu einer Salzsäule erstarrt. Er spürte Evangelines Körperwärme und der Duft ihres Sandelholz-Parfüms kitzelte seine Nase. War die Kollegin ihm überhaupt jemals so nahe gewesen? Sicher nicht. Es fühlte sich dann auch dementsprechend fremdartig an. Allerdings nicht zwangsläufig schlecht.
Wie durch eine Form von Gnade fanden die Kollegen dann auch tatsächlich zu dem besagten Thema zurück. Sie waren ganz in ihr Gespräch vertieft, als sie schließlich Evangelines Hotel erreichten. Es war ein modernes Haus, welches sich dennoch eine alte Aura erhalten hatte. Mit all dem goldenen Licht und den samtenen Teppichen, die jeden Schritt zuverlässig verschluckten, strahlte es Klasse aus. Das Echo eines vergangenen Glanzes in diesem Jahrhundert. In der Lobby war es dermaßen warm, dass Tom quasi vor lauter Selbsterhaltungstrieb seinen schweren Mantel aufknöpfte. Er spähte währenddessen hinüber zu Evangeline. Ein Strich von einem Mann mit mehligem Teint und Haut, die über seinen Wangenknochen spannte, reichte der Brünetten gerade ihre Schlüsselkarte. Der Mann sagte noch Etwas zu ihr und die Schauspielerin antwortete, doch der Engländer konnte die Worte natürlich nicht hören. Kurz darauf stand die Schauspielerin wieder vor dem Briten. Die Karte glänzte in ihrer Hand. „Hier wären wir also.“ stellte der Schauspieler das Offensichtliche fest und ging gemeinsam mit Evangeline langsam zu den Fahrstühlen, wo sie stehenblieben. Einer der Fahrstühle öffnete sich mit einem 'Pling' und eine Frau im Mini-Kleid trat heraus, deren blauer Lidschatten greller war als die summenden Neonlichter der Stadt. Das Handy ans Ohr gepresst, ging die Lady an den Schauspielern vorbei. Die platinblonde Frau stritt sich aufgebracht mit der Person am anderen Ende der Leitung und beachtete die Schauspieler gar nicht. Kurz darauf war die Blondine verschwunden. Nur der klebrig-süße Duft ihres Parfüms hing noch in der Luft. Toms Augen waren auf Brünette gerichtet. Dies war eigentlich der Moment des Abschieds. Doch der Brite musst an ihr Gespräch von gerade eben denken. An Themen wie Tessas Geschenk, London oder auch das Theater. Das Gespräch war durchaus nicht unangenehm gewesen. Es hatte sich nicht wie Kaugummi gezogen und man hatte sich währenddessen auch nicht ständig finstere Blicke zugeworfen. Eigentlich war das Gegenteil der Fall gewesen. Man hätte das Gespräch fast schon als "normalen Smalltalk" bezeichnen können. Und vielleicht hatten sich die Grenzen zwischen einem solchem und einem nahezu freundschaftlich geprägten Gespräch sogar im Laufe der Unterhaltung ein wenig verwischt. Natürlich hatten die Kollegen das etwa dem Theater und gemeinsamen Vorlieben zu verdanken, aber trotzdem. Vielleicht konnte man darauf aufbauen und die Antipathie weiter abbauen. Der Gedanke fühlte sich gar nicht mal so sperrig an. Die beiden Kollegen würden sicherlich nie die besten oder überhaupt Freunde werden, doch vielleicht könnte ihr nächstes Aufeinandertreffen von Anfang an zumindest ein Stück weit harmonischer sein. Tom runzelte die Stirn und überlegte. Sollte er Evangeline vielleicht auf einen Drink an der Hotelbar einladen? Oder würde sie das als aufdringlich empfinden? Tom legte den Kopf ein wenig schräg und musterte sein Gegenüber unschlüssig. Eine Chance stellte dieser Moment natürlich definitiv dar, das stand wohl außer Frage. Dieser Abend könnte der Grundstein für einen Neuanfang sein. Eigentlich mussten Evangeline und Tom jetzt nur zugreifen und ihre Chance nutzen ...