21.04.2021, 11:12
Pauls Entschlossenheit rührte die Blondine. Wie oft hörte man von jemanden ‚Oh nein, du störst gar nicht‘, während man genau wusste, dass man im Moment nicht erwünscht war und diese Person lieber wo anders wäre. Sehr oft. Doch bei Paul war das nicht nur eine höfliche, aber unwahre Aussage, sondern es war offensichtlich, dass er es ernst meinte. Der Ältere war lieber hier mit ihr und versuchte ihr zu helfen, als bei seiner eigentlichen Abendveranstaltung zu sein. Paul war wirklich ein wahrer Freund und bestätigte Mél in ihrer Entscheidung, dass sie nach dem Fiasko bei ihr zu Hause ausgerechnet vor der Tür des Amerikaners gestanden hatte. Hier war sie am besten aufgehoben. Der Ansatz eines Schmunzelns umspielte ihre Lippen, als Paul sich seiner Krawatte und seines Sakkos entledigte, um zu unterstreichen, wie unwichtig dieses Essen war. Sogar ein kleiner Scherz lag ihr auf den Lippen, aber sie war zu deprimiert und kraftlos, um ihn auszusprechen. Es fühlte sich einfach nicht richtig an. Gar nichts fühlte sich im Moment richtig an. Zumindest glaubte die Blondine das bis zu dem Augenblick, in dem der Schauspieler sie in eine tröstende Umarmung zog. Sie legte ihre Arme um ihn und ihren Kopf auf seine Schulter. Das Gefühl seiner Finger, die über ihren Rücken strichen, hinterließen ein angenehmes Kribbeln. Sie fühlte sich bei Paul so geborgen und sicher wie schon eine lange Zeit nicht mehr. Doch so sollte es bei einer verheirateten Frau nicht sein. Eine verheiratete Frau konnte sich durchaus bei einem anderen Mann gut aufgehoben und sicher fühlen. Freundschaftlich. So wie eben jetzt mit Paul. Aber sie sollte sich nicht ausschließlich bei einem Freund so fühlen, sondern auch in ihrer Liebesbeziehung. Aber davon waren Ben und Mélanie gerade sehr weit entfernt. Sie wusste im Moment nicht einmal, wann er sie das letzte Mal einfach so in den Arm genommen und gehalten hatte. Es fühlte sich jedenfalls wie eine Ewigkeit an und wenn sie so darüber nachdachte, dann wollte sie das momentan nicht einmal. Dafür war sie viel zu wütend auf den Franzosen. Aber diese Umarmung hier ließ Mélanies graue Welt tatsächlich wieder etwas bunter erscheinen. So konnte sie dem Schauspieler sogar ein dankbares Lächeln schenken, als er sich wieder von ihr löste. Für einen Moment sahen die Freunde sich schweigend an, was oft eine unangenehme Situation war, aber nicht mit Paul. Vielmehr fühlte es sich wie das normalste der Welt an. Für einen Moment konnte die Französin sogar ihre Sorgen mit Ben vergessen. Zumindest bis Paul sich räusperte und das Thema wieder aufgriff.
Mit einem Nicken bestätigte sie dem Älteren, dass sie seinen Rat nur zu gerne hören würde. Sie wusste, dass Paul solche Situationen nicht mochte und aus welchem Grunde auch immer mit Unsicherheiten zu kämpfen hatte. Manchmal hatte die Blondine das Gefühl, dass Paul sehr darauf bedacht war nichts Falsches zu sagen. Klar, niemand wollte in Fettnäpfchen treten und jemanden unbeabsichtigt verletzen, aber Paul war da noch einmal ein ganz anderer Kandidat. Er sprühte eigentlich nur so vor Charme und Witz, doch wenn es um ein ernstes Thema ging, dann fasste er Mélanie mit Samthandschuhen an, so als würde sie allein an einem einzelnen Wort zerbrechen können. Manchmal würde sie gerne als eine Frau, die ihre Gedanken schon immer frei aussprach und ihre ehrliche Meinung selten für sich behielt, den Älteren rütteln und ihm sagen, dass er doch sagen sollte, was er wollte. Das sie es aushielt, egal was er ihr zu sagen hatte. Mél selbst nahm kaum ein Blatt vor den Mund, also musste er es bei ihr auch nicht tun. Sie war nicht so zart besaitet wie Paul wohl zu glauben schien. In Momenten wie diesen, wo er stotterte und sich hinter einem Witz versteckte, da würde sie gerne rütteln. Aber dann sprach der talentierte Amerikaner weiter. Mélanie lauschte schweigend und nahm ab und an einen Schluck von ihrem Wasser. Ihre Hand zitterte inzwischen nicht mehr, die 34-Jährige fokussierte sich voll und ganz auf Paul und seine Stimme. Sie war froh, dass Paul die Lage ähnlich sah wie die Europäerin. Das bestätigte sie darin, dass sie nicht überreagierte und sie diesen Kampf zurecht führte. Auch wenn man Paul und Julie nicht als Vorzeigebeispiel nehmen konnte, da sie immerhin trotz aller Mühen geschieden worden waren, so verspürte die Blondine dennoch einen gewissen Neid auf das ehemalige Paar. Sie hatten alles versucht um ihre Beziehung zu retten und Paul hatte sich bestimmt nicht lange bitten lassen, wenn Julie einen Vorschlag zum Erreichen dieses Ziels gemacht hatte. Sie hatten für ihre Ehe gekämpft und auch wenn sie diesen Krieg verloren hatten, sie konnten sich nichts vorwerfen. Mél kämpfte auch für ihre Ehe, was sich jedoch von Tag zu Tag als schwieriger erwies. Aber sie handelte richtig, weil sie Ben liebte und ihre Beziehung retten wollte. Und so stellte Paul eine wirklich berechtigte Frage: Warum tat Ben das nicht? Warum war er nicht gewillt um das zu kämpfen, was sie hatten? Wieso verschloss er sich so vor ihren Problemen? Das sollte Mélanie herausfinden, auch wenn sie jetzt schon wusste, dass Ben wieder nur abblocken würde.
Allein die Vorstellung an das Gespräch reichte aus, um die Schönheit zu entmutigen. Dennoch zwang sie sich bei Pauls aufmunternden Lächeln dazu ihre Lippen selbst für einen kurzen Augenblick zu einem Lächeln zu verziehen. Dann wanderte ihr trauriger Blick wieder zu dem Wasserglas in ihrer Hand.