15.07.2021, 06:35
„Du bist mit Timothée unterwegs?“ Kiernans Mutter klag alarmiert. Ihre Stimme bebte und war schrill. Seufzend blickte Tim zur Zimmerdecke. Er konnte sich noch gut daran erinnern wie fürsorglich Erin sich ihm gegenüber früher verhalten hatte. Etwa wenn sie ihn abschätzend gemustert und ihn dann unsicher gefragt hatte, ob er wirklich alleine nach Hause gehen wollte. Wie sie auf sein selbstsicheres 'Klar, ich nehm einfach die U-Bahn!' sorgenvoll die Stirn gerunzelt hatte. Timothée hatte ihr dann immer hoch und heilig versprechen müssen, dass er nicht noch herumtrödeln würde. Dass er vom New Yorker Hotelzimmer der Shipkas ohne Zwischenstopps nach Hell's Kitchen fahren würde. Tim hatte sich dann immer stets bevormundet gefühlt. Heute wusste er, dass Erin sich Sorgen gemacht hatte. Er wusste außerdem, dass sie sich heute keine Sorgen mehr um ihn machte. Schon allein wie sie von ihm redeten. Sie hätte auch 'Du bist mit Ted Bundy unterwegs?' fragen können. Was war geschehen seit den gemeinsamen Spieleabenden und den Ausflügen in den Zoo? „Ihr hängt nur zu Hause rum? Kiernan, ich weiß genau was herumhängen bei euch Kids bedeutet und du weißt ganz genau, was ich davon halte.“ Der Schauspieler schloss genervt die Augen. Bunte Lichter explodierten vor dunklem Hintergrund. Heute war Monopoly nicht das einzige Spiel, welches Kiernan und Tim miteinander spielten. Das war passiert. Kiernans Eltern hatten ein Problem mit … Nun, das war sehr eigenartig. In Amerika ging man, wie Timothée fand, teils sehr komisch mit Themen wie Sex und Sexualität um. Bereits der etwas anrüchige Auftritt eines Popsternchens während irgendwelcher MTV-Awards konnte hier gefühlt ein ganzes Land schocken. Derselbe Auftritt würde in Europa hingegen nur ein gelangweiltes Gähnen hervorrufen. Als Kiernans Eltern angefangen hatten ihn wie Fußpilz zu behandeln, da hatte der junge Mann also zunächst geglaubt, dass sie einfach spießige Amerikaner waren. Spießer, die ihn jetzt, wo die Hormone in ihm brodelten, neuerdings für einen versauten Bengel hielten, der ihre unschuldige Tochter verführen wollte. Mittlerweile bezweifle Tim diese Theorie jedoch stark. Was er tatsächlich sogar irgendwie schade fand. Denn wenn Kiernans Eltern wenigstens wirklich um Kiernans Willen Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft gehabt hätten, aber nein … Die Shipkas hatten zwar ein Problem mit Sex und Sexualität, aber letztlich ging es ihnen doch nur um das Image ihrer Tochter. Darum, dass sich eine Kiernan, deren Sextape im Internet auftauchte, nicht mehr besonders gut als drolliges Mädchen von Nebenan vermarkten ließ. Eine ständig betrunkene Kiernan oder eine, die Gras rauchte, ließ sich ebenso wenig als America's Sweetheart verkaufen. Alkohol und Weed und überhaupt alles, was das Sauberfrau-Image gefährdete, war also sicher genauso gefährlich wie Sex. Das störte Tim so sehr. Dass es letztlich gar nicht um Kiernan – den Menschen – ging. Es ging nur um die Marke. Timothée hingegen mochte vielleicht all das sein, was Kiernans Eltern ihm so gerne und oft vorwarfen zu sein. Eben ein sexbesessener Junge, dem es an Moral völlig fehlte (er selbst hätte es natürlich weitaus positiver ausgedrückt), doch Tim ging es wenigstens um Kiernan selber. Nicht um die Schauspielerin. Nicht um den ehemaligen Kinderstar, der sich langsam als erwachse Kollegin etablierte. Um Kiernan. Einfach nur um Kiernan.
Tim öffnete die Augen, drehte leicht den Kopf und sah zu der Blondine, die stumm ihre Mutter durch den Kakao zog. Kiernans kleine Gesichtsgymnastik entlockte ihm ein Lachen. Nicht zum ersten Mal bewunderte der New Yorker die Schauspielerin dafür, wie sie mit der Situation umging. Sie konnte immer noch lachen und hatte noch immer so viel Humor. Trotz dieser Eltern, die jeden ihrer Schritte kontrollierten. „Ich hoffe du denkst an die Verhütung. Ich will nicht, dass du dir für diesen Jungen dein Leben ruinierst.“ Der New Yorker schnitt eine Grimasse. 'Dieser Junge'?! Hey! Kiernan hätte es doch wohl viel schlechter treffen können! Seine DNA war darüber hinaus auch nicht zu verachten und mit ihm als Vater würde ihr Kind in zwei Sprachen fluchen können! Wie konnten die Shipkas das nicht zu würdigen wissen!? Echt jetzt! Mit gespielter Empörung im Blick funkelte Tim sauer das Telefon an. Mit der Hand fuhr er sich durch die dunklen Locken und schüttelte mit falscher Frustration den Kopf.
Die aufgesetzte Finsternis hellte sich sofort auf, als die Blondine anfing ihre Mutter in die Irre zu führen. Man konnte den Moment bestimmten, in dem Erins Herzschlag kurz aussetzte. Timothée musste sich auf die Unterlippe beißen, um nicht schallend los zu prusten. Seine Lippe fühlte sich schließlich schon ganz taub an und war gewiss weiß wie Schnee. „Was?” rief er extra so laut, dass auch Erin es hören musste, unschuldige Irritation in seiner Stimme. „Du weißt doch wie altmodisch-europäisch ich bin! In der alten Welt vertreten wir den Standpunkt, dass die Frau für die Verhütung zuständig ist!“ Das war natürlich alles ein großer Haufen Bullshit, doch glaubten die Shipkas nicht genau das? Dass er ein Schuft war, der nicht mal wusste, wie man 'Verantwortungsbewusstsein' überhaupt schrieb? Es tat durchaus gut diese bizarre Geschichte nun in gewisser Weise gegen Erin verwenden zu können. Auch wenn Kiernans Mom garantiert wusste, dass Timothée scherzte. „WAS?!“ hallte ihre Stimme dennoch fassungslos aus dem Smartphone. „Darüber macht man keine Witze!“ blaffte Erin und ihre Stimme überschlug sich nun mehrfach. Tim hatte erneut zu lachen angefangen und Erin wiederholte ihre Worte bissig. „Irgendwann wird das klein geschmackloser Witz mehr sein, warte es nur ab!“ warnte sie ihre Tochter. „Wenn das so weitergeht wirst du bald hochschwanger, er über alle Berge und deine Karriere beendet sein!“ dröhnte es schrill aus dem Handy. Tim tauschte einen raschen und vielsagenden Blick mit der Blondine aus. „Aber Erin! Ich würde Kiernan und den kleinen Timmy Jr. doch niemals sitzen lassen! Was denkst du denn von mir!“ verteidigte der New Yorker sich kichernd und tat ganz empört. Es war natürlich alles ein Scherz und doch stimmte der Kern der Aussage ganz gewiss. Timothée würde immer an Kiernans Seite sein. Vielleicht nicht als ihr fester Freund oder als Vater ihrer Kinder, doch ganz gewiss als ihr bester Freund.
Nachdem Erin angesäuert ('Warum erzähle ich das überhaupt immer wieder und wieder wie eine kaputte Schallplatte, ihr hört mir ja eh nicht zu!') einen Vortrag über ach so alptraumhafte Teenager-Schwangerschaften und ihre zutiefst unangenehmen Folgen gehalten hatte, wurde das Telefonat beendet. Tim sah zu Kiernan. Im goldenen Licht der Lichterkette, die über ihren Köpfen hing, sah die Blondine ganz besonders verführerisch aus. Eine helle Gestalt im Halbdunkel des Mädchenzimmers. Dennoch war Timothées gerade noch so hitziges Verlangen in sich zusammengestürzt wie ein Kartenhaus. Erins nagende Stimme in seinem Kopf schien den New Yorker mental vorübergehend kastriert zu haben. Bei jeder zärtlichen Berührung würde er jetzt Erin mahnende Worte wie 'Mutter mit 18!' brüllen hören. Der Funken war erloschen. Zumindest für heute. Was Timothée wirklich wurmte. Bedeutete es doch, dass sie den Sex für heute vergessen konnten – und irgendwie auch, dass Erin damit für heute gewonnen hatte! Kiernan und er hatten so viel gelacht, aber am Ende würden sie wohl doch genau das tun (oder unterlassen), was Erin wollte. Eine ernüchternde Stille hatte sich daher auch im Raum bereitgemacht. Der Kater am Morgen nach der Party. Wenn die Tanzfläche sich wieder in einen zugemüllten Küchenfußboden verwandelt hatte. „Ah Fuck …“ leise fluchend fischte der Schauspieler resigniert sein verwaschenes T-Shirt vom Fußboden und zog es sich über den Kopf. „Eigentlich sollten wir deinen Eltern echt mal erzählen, dass du schwanger bist. Nur um sie mal so richtig zu schocken.“ überlegte der Schauspieler, der auf eine lausbübisch Art und Weise auf Rache sann. Dann ließ Tim sich wieder in die Kissen fallen. Erneut umwehte ihn der frische Duft des Weichspülers. Der Schauspieler plapperte nur so dahin, doch die Vorstellung Kiernans Eltern mal so richtig zu verarschen gefiel ihm schon. „Natürlich würden sie schnell merken was Sache ist. Aber im ersten Moment würden sie garantiert bleicher als bleich werden! Und allein das zu sehen!“ Der New Yorker kicherte und sein Tonfall wirkte nun fast schon schwärmerisch. Als träumte er den schönsten Tagtraum. „Oder irgendwie sowas.“ Tims Lippen waren zu einem Lächeln verbogen, welches sich jederzeit in ein Grinsen verwandeln konnte. Die Idee wuchs in ihm. Eigentlich müsste man da doch was erzählen können! Irgendwas! Tim setzte sich nun wieder auf. Die Katerstimmung war vorbei! Der New Yorker war jetzt wieder richtig wach und fit! Er bewegte sich auf die Amerikanerin zu. Die Matratze ächzte leicht und gab unter dem Schauspieler ein wenig nach. Der New Yorker war nun, dank seiner Idee, wieder voller jugendlicher Energie, die er auch ausstrahlte. Timothée sah aus wie jemand, der Clearasil bewarb. Fast schon strahlend. Seine Idee hatte als klassische Schnapsidee angefangen, aber das musste sie ja eigentlich nicht bleiben! Es hatte doch schon so viel Spaß gemacht Erin am Telefon Märchen zu erzählen! Der Schauspieler legte seine Hände auf die schmalen Schultern der Amerikanerin. „Lass uns deine Eltern so richtig verarschen!“ schlug Timothée aufgeregt und mit funkelnden Augen vor. Kiernans Eltern hielten ihn für einen schlechten Einfluss? Gerade war er wohlmöglich wirklich einer – und Tim genoss jede Sekunde davon!