05.12.2021, 10:10
"Und ich dachte, du wärst eine von der braven Sorte. Setz' dich." Billie deutete auf die Einladung des Amerikaners hin ein knappes Nicken an. Währenddessen musterte die Sängerin den Musiker weiter. Ihre Augen ruhten auf seinem Gesicht. Brav … 'Und ich dachte, du wärst eine von der braven Sorte' hatte der Amerikaner gesagt. Was war mit ihm selber? War Gerald einer von der braven Sorte? Ohne es bewusst zu tun oder auch nur zu merken rieben Billies Lippen langsam übereinander. War G einer von der braven Sorte? Die Amerikanerin bezweifelte es stark. Nicht etwa weil der Landsmann Gras rauchte oder weil es in seinen Songs nicht um Feenstaub, Sternschnuppen und Regenbögen ging. Nein. Billie legte den Kopf leicht schräg. Nein. Es war ein totales Klischee, doch Gerald hatte so eine Ausstrahlung. Humorvoll, aber auch ohne dabei zu freundlich rüber zu kommen. Man glaubte nicht, dass der Rapper einen jeden Moment bis über beide Ohren strahlend zum Barbecue einladen würde. Gleichzeitig kam man sich in seiner Anwesenheit aber auch nicht störend oder ungewollt vor. Gerald war lässig, aber nicht übertrieben lässig. Bei ihm wirkte das authentisch. Er war cool, aber nicht eiskalt oder komplett unnahbar. Eigentlich war Gerald wie so ein typischer Bad Boy aus einem Film, der sich vornehmlich an Jugendliche richtete oder einer aus einer Teenie-Serie. So ein Bad Boy, der zwar niemals der nette Junge aus der Nachbarschaft sein würde, vor dem man sich aber auch nicht fürchtete, denn sooo böse war er nun auch nicht. Vielleicht trug dieser Bad Boy etwas viel Schwarz oder fluchte wie ein Seemann, aber hinter der Fassade des missverstandenen und rebellischen Außenseiters, der nichts und niemanden brauchte, verbarg sich eine poetische Seele, die bereits viele Narben aufwies und sich nach Zuneigung sehnte. Und genau deshalb konnte selbst das unschuldig-brave Mädchen aus der Vorstadt-Nachbarschaft mit ihren gepflegten Vorgärten und den weißen Lattenzäunen für diese Art von Bad Boy schwärmen und ihm flammende Liebesbriefe schreibe. Ja, solche Bad-Boy-Vibes bekam Billie von Gerald, irgendwie. Vielleicht lag sie da völlig falsch, doch das war ihr Eindruck. Klischee hin, Klischee her.
Apropos Klischees! „Und ich dachte ein weltgewandter Rapper wie du einer bist würde nicht in solchen Klischees wie 'brav' oder 'böse' denken.“ entgegnete Billie schließlich. Die Lippen des Teenagers hatten sich zu einem schlagfertig-süffisanten Grinsen gekräuselt. Gleichzeitig war jedoch die ganze Zeit über auch sehr deutlich, dass der Kommentar des Mädchen kein verbaler Angriff auf den Rapper war. Billie hatte nur gekontert. Noch immer grinsend setzte sie sich. Im ersten Moment schien der weiche Bezug des bereits etwas durchgesessenen Stuhls Billie schier zu verschlucken. Wie Treibsand, in dem man langsam verschwand. Der Teenager ließ sich davon aber nicht beirren. Seine Aufmerksamkeit galt nach wie vor Gerald. Zumindest bis sie eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrnahm. Dakari war aufgestanden. Er blickte zu Gerald und Kossi und dann zu Billie. Wie sah er sie an? Abschätzend? Unsicher? Genervt? Das Mädchen konnte seinen Blick nicht richtig deuten. Dakari blickte dann wieder zu G und er verabschiedete sich. "Mach's gut, bro!" kam es von Gerald und auch Kossi ließ ein 'Bis dann, Alter!' von sich hören. Billie stimmte sozusagen mit ein, selbst wenn sie nicht zu dem musikalischen Trio gehörte und als Außenseiter das Studio sozusagen gecrasht hatte. „Mach's gut!” rief der Teenager also in einem fröhlichen Ton und winkte Dakari hinterher. Die Tür des Studios fiel in ihre Angeln. Alles, was in dem Raum dann noch an den Produzenten erinnerte, war der Hauch seines herben Aftershaves, der noch in der Luft hing.
Kurz darauf tat Kossi es Dakari gleich und ließ Billie und Gerald ebenfalls alleine. Zwar ging er nicht weg und verließ nicht den Raum, so wie der Produzent es getan hatte, doch er zog sich in die Musik zurück. Im einen Moment betrachtete er Billie und Gerald noch lächelnd, im nächsten hatte er bereits die Kopfhörer auf den Ohren und die Augen geschlossen. Der Teenager musterte Kossi einen Moment lang. Ein undefinierbares Schwirren von Beats drang leise aus den Kopfhörern und Kossi nickte mit dem Kopf zu ihrem Rhythmus hin- und her. Er schien völlig in der Musik verschwunden zu sein. Dann kehrten Billies Blicke zu Gerald zurück. Gedankenverloren biss sie sich auf die Unterlippe. Ein wenig strange war das jetzt ja schon. Es fühlte sich fast so an als wären der Landsmann und sie nun allein hier. Natürlich waren sie das nicht wirklich. Kossi war auch noch mit ihnen im Studio, er saß direkt neben ihnen, in Dakaris Stuhl. Doch wie ein Teenager im Schulunterricht war Kossi eben nur körperlich anwesend. Es fühlte sich daher auf jeden Fall so an als wären Billie und Gerald alleine – und aus irgendeinem Grund bescherte dieser Gedanke dem Teenager ein eigenartiges Gefühl. Ein merkwürdiges, kribbliges Gefühl wie wenn man zu viele saure Fruchtgummis aß.
Die Amerikanerin hätte darüber nachgedacht, doch ihr Landsmann wandte sich an sie, bevor das Mädchen seine Gedanken diesbezüglich kreisen lassen konnte. "Wie alt bist du jetzt?" Die Frage überraschte das Mädchen heißkalt. Billie blinzelte und hielt kurz inne. Antworten wie 'Fast 17' und 'Mental wahrscheinlich älter als du' oder 'Hast du keine Manieren, das fragt man eine Lady nicht, duh!' lagen dem Mädchen auf der Zunge und prickelten dort auf Billies Zungenspitze. Sie schluckte diese Antworten dann jedoch herunter. „16.“ meinte sie stattdessen wahrheitsgemäß und selbstbewusst. Als wäre es keine große Sache. Was es ja auch nicht war. Warum hatte Billie gerade kurz gezögert? Vielleicht weil sie am Ende des Tages auch nur ein Teenager war, der nicht wollte, dass Gerald ihn als eine Art Kleinkind betrachtete … Naja …. Whatever … War doch auch egal! Billie hatte dem Rapper ja jetzt ihr Alter genannt. Wobei ganz so kalt ließ die Sängerin das jetzt auch noch nicht. Schweigen. Und Billie verspürte das Verlangen es mit einem Kommentar á la 'Ich weiß, ich kann ein Auto kaufen, aber nicht mal eine einzige Dose Budweiser, verrückt was? Ich schätze … Willkommen in Amerika, Baby!' zu brechen. Doch so eine Bemerkung hätte ihr junges Alter ja nur fett mit einem Rotstift unterstrichen. Das wusste auch Billie und deshalb hielt sie zunächst auch noch den Mund. Die ganze Sache war schon irgendwie awkward gerade. Als die Amerikanerin dann schließlich doch wieder das Wort an Gerald richtete sah sie auch auf den Joint, der zwischen seinen Lippen steckte, und nicht etwa in die Augen des Rappers. „Und? Rufst du jetzt die Cops, damit sie mich nach Hause bringen und ich pünktlich nach dem Abendessen von meinen Eltern ins Bett geschickt werden kann?“ fragte Billie rotzig. Nun hob die Musikerin doch den Blick. Sie sah Gerald an und ihre Augen funkelten herausfordernd. Nur wenn der Rapper ganz genau hinsah konnte er eine kleine Flamme der Nervosität in Billies blauen Augen flackern sehen.